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Samira El Ouassil

»Überrascht von der Dynamik« Berechnende dynamische Ignoranz

Samira El Ouassil
Eine Kolumne von Samira El Ouassil
Politisches Missmanagement, Wunschdenken, fehlender Mut und offensichtliche Unfähigkeit, Kurven zu lesen, lenken ein ganzes Land ins »härteste Weihnachten« – schon wieder. Ist die Ursache Unehrlichkeit oder Inkompetenz?
Die Inzidenz von heute macht sich erst mit Versatz in den Intensivstationen bemerkbar

Die Inzidenz von heute macht sich erst mit Versatz in den Intensivstationen bemerkbar

Christoph Burgstedt / iStockphoto / Getty Images

8. Juli 2021: Die Olympischen Spiele in Tokio sollen ohne Publikum stattfinden, wird nun beschlossen. Britney Spears befindet sich im Vormundschaftsstreit mit ihrem Vater. Das Robert Koch-Institut (RKI) veröffentlicht ein sogenanntes Epidemiologisches Bulletin mit mathematischen Modellierungen des epidemiologischen Geschehens der kommenden Monate. Ein darin enthaltenen Artikel mit dem Titel »Welche Impfquote ist notwendig, um Covid-19 zu kontrollieren?« kommt zum Fazit:

»Mit einer zunehmenden Dominanz der Delta-Variante ist in den kommenden Wochen zu rechnen. Diese wird sich auf die Intensivbetten-Belegung vor allem dann auswirken, wenn die Impfquoten bei den 12–59-Jährigen bei 75 Prozent oder gar 65 Prozent stagnieren und gleichzeitig eine komplette Öffnung stattfindet. Je niedriger im Herbst die erreichten Impfquoten sind, desto weniger sind bei Dominanz der Delta-Variante die Basishygienemaßnahmen ausreichend und weitere kontaktreduzierende Maßnahmen wären notwendig. Der Sommer sollte daher dringend genutzt werden, um eine Impfquote von 85 Prozent bei den 12–59-Jährigen und 90 Prozent bei den ≥ 60-Jährigen möglichst schnell zu erreichen 

Zur Autorin

Samira El Ouassil, 1984 in München geboren, ist Schauspielerin und Autorin. Für ihre medienkritische Kolumne »Wochenschau« auf uebermedien.de wurde sie mit dem Bert-Donnepp-Preis für Medienpublizistik ausgezeichnet. Jüngst wurde sie vom »Medium Magazin« zur Kulturjournalistin des Jahres gekürt. Im Oktober 2021 veröffentlichte sie zusammen mit Friedemann Karig den Bestseller »Erzählende Affen«.

17. Juli 2021: Der Belgier Wout van Aert gewinnt das Einzelzeitfahren auf der 20. Etappe der Tour de France. Während Bundespräsident Steinmeier im nordrhein-westfälischen Erftstadt den Opfern der Flutkatastrophe sein Mitgefühl ausspricht, lacht der Kanzlerkandidat Laschet im Hintergrund. Der Berliner Mobilitätsforscher Kai Nagel veröffentlicht einen Bericht an das Bundesministerium für Bildung und Forschung, in dem eine vierte Coronawelle vorausgesagt wird: »Laut unseren Simulationen wird im Oktober ein exponentieller Anstieg bei den Krankenhauszahlen starten

23. Juli 2021: Kanzlerin Merkel beschließt, zur Eröffnung der Wagner-Festspiele nach Bayreuth zu reisen. Der Virologe Drosten warnt aufgrund der niedrigen Impfquote, fordert, mehr Informationsarbeit zu leisten, »auch im privaten Umfeld, damit die Impfquote schneller ansteigt. Dadurch sinkt die Wahrscheinlichkeit von erneuten schmerzhaften Eingriffen im Winter 

Vier Monate später. 10. November 2021: In einem Interview der BR-Sendung »Kontrovers« verkündet der bayerische Ministerpräsident Söder staatsmännisch: »Es ist ja sehr beeindruckend, dass nahezu alle Virologen, Epidemiologen und Wissenschaftler auch die Wirkung dieser neuen Welle in ihrer Wucht und Geschwindigkeit nicht richtig eingeschätzt haben 

Södern, bis der Arzt kommt

Filmriss. Ein großes Fragezeichen: Was hätten denn das RKI, Drosten und andere Virologen noch machen sollen, damit ihre Warnungen ernst genommen werden? Hätte man die Modellierungen gendern müssen, um mehr Aufmerksamkeit zu bekommen?

Das RKI lag bei dem nun eingetretenen, mit der aktuellen, niedrigen Impfquote berechneten Szenario etwa ein bis zwei Wochen daneben, die gegenwärtige Kurve wurde jedoch exakt vorgezeichnet. Die echte oder gekonnt gespielte Überraschtheit auf politischer Ebene ist dementsprechend von fast imponierender Dreistigkeit, »überrascht von der Dynamik« wurde hierbei zu meiner persönlichen Hassformulierung, die von verschiedenen Akteuren nahezu wortgleich übernommen wurde.

Wie kann man bei berechneten Kurven von einer »Dynamik« »überrascht« werden? Der Witz an einer exponentiellen Kurve zum Beispiel ist, dass sie an jeder Stelle exponentiell ist und nicht erst »plötzlich« ganz am Ende. Es gibt wenig Vohersagbareres als exponentielle Kurven (klar: das Amen in der Kirche). Dementsprechend ist es auch eine semantische Albernheit, von explodierenden Zahlen zu sprechen, als seien die Ziffern aus dem Hinterhalt geworfene Blendgranaten. Und rein praktisch: Wie kann man bei exakt derselben Anordnung wie im vorherigen Jahr, bei einer saisonalen Wiederholung mit loseren Kontrollumständen, von einer »Wucht« »überrascht« werden?

Auch der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek performt ohne Not die Überraschtheit einer Person, die in den Wald läuft und dort aufgrund der unerwartet vielen Bäume überfordert ist: »Ich glaube, dass wir eine Dynamik momentan erleben, die wirklich nicht vorhersehbar war 

Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke toppte diese Turbonaivität, als er letzte Woche in einem RBB-Interview verriet: »Mir wurde gesagt, dass eine solche Dynamik in dieser Pandemie noch nicht da gewesen ist 

Warnungen verhallten

Und während in Österreich offiziell die Triage beginnt, nun also fünf Mediziner und eine Juristin darüber entschieden, wer gerettet wird und wer nicht, und sich die Leichen in den Krankenhausgängen stauen , erlauben sich hiesige Politiker ebenfalls den Luxus der kompletten Ahnungslosigkeit. Auch die Gesundheitslandesrätin Christine Haberlander behauptet: »Wir hatten einen fast normalen Sommer und dann kam es eben zu einem unglaublichen dynamischen Anstieg, der durchaus auch alle überrascht hat 

Doch wurde auch in Österreich bereits im Juli nachdrücklich gewarnt  – während Kanzler Kurz die Pandemie für beendet erklärte . Und auch der neue Bundeskanzler Alexander Schallenberg reiht sich ein in die Tradition der berechnenden dynamischen Ignoranz: »Die Experten haben diese dramatische Dynamik, die wir jetzt sehen, in der Form nicht vorhergesehen.«

Doch er hat nicht ganz unrecht: Wohl niemand konnte vorhersehen, wie dramatisch sich die autodestruktive Lust mancher Menschen entwickelt, die lieber ein Entwurmungsmittel für Pferde einnehmen, als eine Impfung zu akzeptieren; oder die sich auf Corona-Ansteckungspartys willentlich infizieren , um danach als genesen zu gelten – und dabei sterben .

Deutsche Kliniken kommen nun an ihre Kapazitätsgrenzen. In der Ferne hören wir noch ein Echo von Marco Buschmanns Stimme, der die epidemische Lage für beendet erklärt, da keine Überbelastung des Gesundheitssystems zu erwarten sei. Mit welchen kaputten Kristallkugeln arbeitet man da in Regierungskreisen?

Beklemmend, verstörend, vermeidbar

Wir wiederholen die »überraschende« zweite Welle des letzten Jahres, nur in »wuchtiger«, »dynamischer« und noch »überraschender« – und beklemmender und verstörender, weil diese vierte vermeidbar gewesen wäre. Aber politisches Missmanagement, Wunschdenken, ausbleibender Mut und die offensichtliche Unfähigkeit, Kurven zu lesen, lenken ein ganzes Land mit Ansage in das »härteste Weihnachten, das die Nachkriegsgenerationen je erlebt haben« – schon wieder.

Das Blöde dabei: Die Inzidenz von heute macht sich erst mit Versatz in den Intensivstationen bemerkbar. Das heißt, wir können die Probleme, die wir nun haben werden, schon nicht mehr lösen – wofür uns unsere zukünftigen Ichs zu Recht hassen werden.

Wenn wir in den bald zwei Jahren Pandemie etwas gelernt haben sollten, dann, dass bei ihrer Eindämmung mindestens drei Dinge besonders wichtig sind: schnelles Handeln, strategisches Vorgehen beim schnellen Handeln – und frühes schnelles Handeln. Das frühe Handeln ist hierbei das größte Problem: Die Warnungen von RKI & Co. erfolgten in einer Zeit subjektiv empfundener Sicherheit. Es hätte im Sommer ein »Herbstproblem« gelöst werden müssen – und nichts hasst Politik mehr, denn sie arbeitet in einer Logik kurzfristiger Interessenverwaltung.

Aus Angst, der Bevölkerung zu viel zuzumuten, insbesondere kurz vor einer Bundestagswahl, musste also gewartet werden, bis das Problem so präsent wurde, dass die Politik nicht mehr als Buhmann dastehen konnte – sondern eben die Wirklichkeit. Und dann kann man überrascht tun. Dabei wäre eine entschlossenere Impfkampagne keine Zumutung gewesen. Eine größere Mobilisierung hätte im Sommer so viel geholfen.

Fehleinschätzungen, Opportunismus, Zauderei

Weil aufgrund von Fehleinschätzungen, Opportunismus oder Zauderei weder schnell noch früh noch strategisch gehandelt wurde (es fing schon bei den Masken an, setzte sich bei »geschlossene Schulen vs. offene Büros« fort, ging über das Kostenpflichtigmachen der Tests und die Schließung der Impfzentren bis hin zur zaghaften Impfkampagne), wurde fahrlässig lange mit falscher Hoffnung auf ein »Alles wird schon irgendwie gut!« gesetzt.

Nach dieser gewollten Verdrängung bleiben in der aktuellen Situation wieder nur die brachialsten Mittel: Impfpflicht, Lockdown oder das zynische Hinnehmen der Toten. Vor der Auseinandersetzung mit diesen Maßnahmen scheut sich der gemeine Politiker jedoch noch mehr als vor allen vorherigen, weshalb die einfachste rhetorische Abzweigung nun die der Verantwortungsdiffusion und der gespielten Naivität bleibt. Und wir dürfen uns gerade aussuchen, ob hier Unehrlichkeit oder Inkompetenz der Grund ist.

14. November 2021. Katrin Göring-Eckardt twittert : »Es bleibt tragisch, dass so wenig vorbereitet war für diese Situation.« Eine Kolumnistin in München wirft ihren Laptop schreiend aus dem Fenster.